
Anthony Bailly
Head of European Equity
Wir erleben seit mehr als anderthalb Jahren eine Outperformance des Value-Stils. Dieser Trend hat sich seit Jahresbeginn trotz des allgemeinen Marktrückgangs noch beschleunigt. In diesem Artikel beschäftigen wir uns mit den Gründen der Outperformance und untersuchen die zugrunde liegenden strukturellen Veränderungen, die für eine Fortsetzung dieses Trends sprechen.
Die Outperformance von Value-Aktien begann im November 2020 mit der Ankündigung der ersten Covid-19-Impfstoffe, die die wirtschaftliche Normalisierung einläuteten. Seit diesem Zeitpunkt ist der Eurostoxx Total Market Value (mit Wiederanlage der Erträge) um 35% gestiegen und hat das Segment der Wachstumstitel um knapp 28% übertroffen. Obwohl dieser Trend vorübergehend durch externe Faktoren gebremst wurde (Delta- und Omikron-Varianten im Jahr 2021, Russland-Ukraine-Krieg seit Jahresbeginn), hat er sich in den letzten Wochen bestätigt und sogar noch verstärkt.
Mit der Verbesserung der Gesundheitssituation in Europa und der aus den Angebotsschocks resultierenden Inflation (Störung der Lieferketten, Rohstoffknappheit, Energie- und Nahrungsmittelkrise aufgrund des Russland-Ukraine-Krieges) hat sich am Markt ein Paradigmenwechsel in Bezug auf die Zinssätze vollzogen, was sich daran zeigt, dass sich die Anleger wieder sehr viel stärker auf die Fundamentaldaten konzentrieren. Dies hat sich positiv auf Value-Aktien ausgewirkt, trotz des negativen geopolitischen Umfelds und der vorübergehenden Konjunkturabschwächung in China, die die globalen Indizes belasteten.
Vor diesem Hintergrund hat der Eurostoxx (mit Reinvestition der Erträge) seit Anfang 2022 um 14,3% an Wert verloren(1). Mit einem Rückgang um 8,0%(1) hat der Eurostoxx Total Market Value während der Baissephase seinen Referenzindex übertroffen und deutlicher noch den Eurostoxx Total Market Growth, der 21,6% an Wert verlor(1).
Der Rückgang des Markts lässt sich in erster Linie durch die Underperformance der Wachstumstitel erklären, die stark in den Indizes gewichtet sind und deren derzeitige Kurse erheblich durch den Anstieg der Nominalzinen belastet werden, insbesondere durch den Anstieg der Realzinsen, das heißt der Zinssätze unter Berücksichtigung der Inflation. Denn diese Unternehmen revidieren ihre langfristigen Gewinne deutlich nach unten.
Die Korrelation zwischen der Wertentwicklung von Value-Aktien einerseits und den Zinssätzen andererseits, die seit dem Ausbruch der Finanzkrise und der Einführung von Quantitative-Easing-Programmen(2) nachteilig auf Value-Aktien ausgewirkt hat, funktioniert in beide Richtungen: Bei steigenden Zinsen profitieren Value-Aktien, wie dies seit Beginn des Jahres der Fall ist. Ein Tiefpunkt bei den Zinsen wurde im Jahr 2020 erreicht, als die erste globale Pandemie des 21. Jahrhunderts ausbrach (siehe Abbildung 1). Seitdem hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden, der durch den Anstieg der Inflationserwartungen ausgelöst wurde.
Dieser wiederum resultierte aus diversen Angebotsschocks sowie der starken Nachfrage, die durch die während der Covid-19-Periode kumulierten Ersparnisse der privaten Haushalte ausgelöst wurde; und zum anderen aus der geänderten der Haltung der Zentralbanken, die erkannten, dass sie die Inflation als vermeintlich vorübergehendes Phänomen unterschätzt hatten und die nun durch Leitzinserhöhungen gegensteuern mussten, was zu eine, Anstieg der Realzinsen führte.
Der Anleihemarkt hat diese Situation bereits vorweggenommen mit einem Anstieg der Bundesanleihen(3), der zu Beginn des Jahres besonders stark ausfiel (+170 Basispunkte) und die bevorstehende Normalisierung der Geldpolitik widerspiegelte, mit der die Notenbanken die höchste Inflation seit 40 Jahren bekämpfen wollen.
Wachstumstitel profitierten von negativen Zinsen und hohen Cashflows, was deren Bewertungen in den vergangenen zehn Jahren künstlich aufblähte. Sie stellten daher das attraktivste Segment in einem Negativzinsumfeld dar und galten als sichere Häfen. Dieses Umfeld hat sich nun vor dem Hintergrund der aktuellen Geldpolitik von Grund auf geändert. Interessant ist außerdem, dass die Wachstumsbranchen besonders gelitten haben, so beispielsweise die Konsum- und Technologietitel, die seit Beginn des Jahres um 25,3%(4) bzw. 28,3%(4) an Wert verloren haben.
Wir sind überzeugt, dass die Underperformance der Wachstumswerte noch nicht vorbei ist, da deren Bewertungsniveaus immer noch sehr hoch sind. So liegen die Bewertungen der Technologieaktien trotz der jüngsten Korrektur nach wie vor im 75. Perzentil, wenn man den Zeitraum von 2015 bis 2022 als Maßstab nimmt. Die Normalisierung der Geldpolitik dürfte den Sektor weiterhin belasten.
Dagegen notieren Value-Aktien nahe ihrer historischen Tiefstände, was sie im aktuellen Umfeld attraktiv macht
Die Outperformance von Value-Aktien im Jahr 2022 erklärt sich daher zunächst einmal durch die ausgezeichnete Wertentwicklung von Energie- und Rohstofftiteln, die von dem Anstieg der Rohstoffpreise im derzeit angespannten geopolitischen Umfeld profitieren; und zweitens durch den positiven Beitrag des defensiven Value-Segments, das sich als besonders robust erwiesen hat, wie an der positiven Wertentwicklung des Telekommunikationssektors zu erkennen. Dagegen litten zyklische Value-Aktien (Banken, Bauwesen, Automobilindustrie, Freizeit und Reisen) unter den Konjunktursorgen und verzeichneten eine ähnlich schwache Performance wie der Gesamtmarkt.
Der jüngste Anstieg der Anleiherenditen fällt im Vergleich zum Zinssenkungszyklus der letzten zehn Jahre gering aus. Die Rendite der deutschen Bundesanleihe liegt derzeit bei 1,5%, dem höchsten Niveau seit 2014, allerdings immer noch deutlich unter dem Stand vom Jahr 2008. Um die seit diesem Jahr bestehende Performance-Lücke zu schließen, müssten Value-Titel gegenüber Wachstumswerten um 35% steigen.
In der zweiten Jahreshälfte könnte diese Outperformance von Value-Aktien über die zyklische Komponente erfolgen. Die Automobilindustrie, der Bausektor sowie die Reise- und Freizeitbranche haben bereits eine deutliche Konjunkturverlangsamung eingepreist. Unter Berücksichtigung des Investitionsbedarfs, der kumulierten Ersparnisse der Haushalte sowie der staatlichen Unterstützung sind wir wieder optimistischer hinsichtlich der Konjunktur. Diese Überzeugung wird auch durch die Einkaufsmanagerindizes untermauert, die sich auf beiden Seiten des Atlantiks auf hohen Niveaus befinden. Solange bei der Inflation der Wendepunkt nicht erreicht ist, können die Sorgen der Anleger in Bezug auf ein Rezessionsszenario weiterhin starke Schwankungen und eine neue Verkaufswelle an den Märkten auslösen. Unserer Einschätzung nach kann es noch ein paar Monate dauern, bis die drei Themen, die die Anleger derzeit verunsichern, vom Tisch sind: der bevorstehende Inflationshöhepunkt in den USA, ein mögliches Wiederaufflammen der Covid-Krise in China sowie der Russland-Ukraine-Krieg. In einem solchen Szenario ist das Performancepotenzial für diese zyklischen Sektoren sehr hoch.
Für vielversprechend halten wir auch den Bankensektor, der im Kontext der Normalisierung der Geldpolitik von den steigenden Zinssätzen profitieren dürfte. Seine Wertentwicklung seit Beginn des Jahres ist stark dekorreliert mit jener der Staatsanleihen, was die Befürchtungen des Marktes in Bezug auf Zinserhöhungen widerspiegelt. Selbst im Falle einer Konjunkturerholung scheint es uns, dass die überaus positiven Auswirkungen steigender Zinssätze auf den Sektor nicht ausreichend in den Kursen berücksichtigt sind, und diese Dekorrelation stellt eine Chance dar, die Anleger nutzen sollten.
Darüber hinaus gibt es weitere Faktoren, die für eine langfristig höhere Inflationsrate als während der vergangenen zehn Jahre sprechen: der Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft, die die Rohstoffpreise verteuert; Produktionsverlagerungen; die demografische Alterung, die zu einem Rückgang der arbeitsfähigen Bevölkerung führt; sowie die Sparfähigkeit der Haushalte. In dieser neuen Ära dürften nach der Normalisierungsphase die Zinssätze die neuen Bedingungen widerspiegeln und sich auf höheren Niveaus einpendeln, was für eine weitere Outperformance von Value-Titeln spricht.
In einem Rezessionsszenario sind die Bewertungen nicht der wichtigste Aspekt. Ein solches Szenario ist nicht auszuschließen, da der schnelle Anstieg der Zinssätze die Investitionen der Unternehmen verteuern und den Immobiliensektor beeinträchtigen könnte.
Dabei gilt es jedoch mehrere Aspekte zu beachten. Zunächst einmal sollten wir uns die Bilanzen der Unternehmen vor Augen halten, die sich heute in besserer Verfassung befinden als während der Vor-Covid-Zeit. Dies ist der Fall bei den Banken, deren Solvabilitätskoeffizienten deutlich höher sind als während der vorhergehenden Zyklen. Das gleiche gilt für die Gesamtheit der Industriesektoren, deren Eigenkapitalquote sich deutlich verbessert hat. Die Sorge vor einer Value Trap(5) scheint daher in diesem Zyklus begrenzt. Wir befinden uns somit in einem Umfeld, in dem Zykliker gesündere Bilanzen und attraktivere Bewertungen aufweisen, sodass sie Value-Anlegern interessante Investmentmöglichkeiten bei begrenztem Risiko bieten.
Darüber hinaus gibt es defensive Sektoren, die absolut mit einem Value-Ansatz vereinbar sind und die es den Anlegern ermöglichen, konjunkturelle Schwächephasen gut zu überstehen: Hierzu zählen im aktuellen geopolitischen Umfeld die Sektoren Telekommunikation, Einzelhandel, Energie und Rohstoffe.
Zudem können Anleger in Wachstumstiteln leicht in eine sogenannte Growth Trap(6) geraten, also eine Situation, bei der hohe Bewertungen, die die Veränderungen des Zinsumfelds sowie die langfristigen Gewinnrevisionen noch nicht angemessen widerspiegeln, mit einer stärkeren Intervention der Regulierungsbehörden bei monopolähnlichen Situationen oder bei Steueroptimierungsstrategien sowie mit der Schließung bestimmter Märkte (wie jüngst in China) zusammenfallen.
Wir erleben derzeit das Ende einer Ära (2014-2020), die von Deflationsängsten, Nullzinsen und einer Aufblähung der Zentralbankbilanzen geprägt war. Dividendenstarke Titel und eine bestimmte Inflationsindexierung bieten Schutz und gleichzeitig ein Performancepotenzial, wenn sie mit Bewertungsabschlägen gehandelt werden. Anleger, die sich in den letzten zehn Jahren auf Wachstumswerte konzentriert haben, könnten die Vorteile von Value wiederentdecken.
(1) Quelle : Bloomberg, 10.06.2022. Die Wertentwicklung wird ohne Reinvestition der Nettoerträge berechnet.
(2) Wirtschafts- und Geldpolitik, die darauf abzielt, die Zinsen zu senken und die Geldmenge zu erhöhen. Diese Maßnahme wird allgemein verwendet, um die Konjunktur zu stimulieren, wenn die traditionelle Funktionsweise der Geldpolitik ineffizient ist, beispielsweise in einem Null- oder Niedrigzinsumfeld.
(3) Vom deutschen Staat emittierte Anleihen. Die Zinsen von Bundesanleihen, deren Laufzeit 10 Jahre beträgt, werden nicht nur für den deutschen Markt, sondern auch für die europäischen Märkte als Referenz betrachtet.
(4) Quelle : Bloomberg, 10.06.2022. Die Wertentwicklung wird ohne Reinvestition der Nettoerträge berechnet.
(5) Deutlich unterbewertete Titel, die zu Unrecht als gute Value-Chancen betrachtet werden.
(6) Anlagefehler, der darin besteht, ein Unternehmen für eine gute Anlage zu halten, nur weil es Gründe dafür gibt, zu glauben, dass es in den nächsten Jahren wachsen wird.
Die genannten Zahlen beziehen sich auf die vorangegangenen Monate. Die Wertentwicklung in der Vergangenheit ist kein Hinweis auf die künftige Wertentwicklung und kann sich im Laufe der Zeit ändern. Berechnung der Performance in EUR ohne Reinvestition der Erträge
Die in diesem Dokument enthaltenen Informationen stellen weder eine Empfehlung zum Kauf von Anlagen noch eine Steuerberatung oder eine Anlageempfehlung seitens Rothschild & Co Asset Management Europe dar.